Einleitung
Der Ausgangspunkt, der im Folgenden verwendet wird, ist, dass eine Exegese, die sich nur auf das stützen will oder wagt, was in der Gestalt Jesu Christi wissenschaftlich annehmbar ist, nicht mit einer authentisch christlichen Sicht von Gott in Einklang gebracht werden kann. Dieses Problem stellt sich bei einem bedeutenden Teil der zeitgenössischen Theologie. Der emeritierte Papst Benedikt XVI. hat kürzlich (Frühjahr 2019) den Finger auf diese schwärende Wunde gelegt mit seiner Anklage, dass Gott in der zeitgenössischen theologischen Literatur zunehmend beiseitegeschoben und manchmal einfach nicht mehr erwähnt wird.
Für biblische Studien, insbesondere der frühesten christlichen Schriften, einschließlich der 4 kanonischen Evangelien, wird auf Universitätsebene in der Regel die “historisch kritische” Methode verwendet. Einer der neueren Gestalter dieses war der bis heute hochgelobte evangelische Theologe Rudolf Bultman (1884-1976). Seine exegetische Forschung konzentrierte sich vor allem auf die “Entmythologisierung” der biblischen Texte. Ihm zufolge war für die Evangelisten das “Kerygma” (die Verkündigung) besonders wichtig, nicht aber die historische Authentizität ihrer Schriften. In den theologischen Kreisen, die nach seiner Methode arbeiten, werden die evangelischen Wunder fast ausschließlich als didaktische Erzählungen behandelt, die mit einer biblischen Symbolik beladen sind. Aber die Ironie ist, dass der vielleicht gut gemeinte historisch-kritische Ansatz weitgehend “fleishlose” Evangelien hervorbringt. Anstelle eines historisch besser beschriebenen Jesus war das Ergebnis eine allgemein geschätzte, aber fragmentierte und vage mythische Figur. Sie war sehr formbar und für alle möglichen Zwecke verwendbar: theologisch, ideologisch, politisch…, sogar passend zum Showbusiness (vgl. die Rockoper Jesus Christ Superstar von etwa 1970).”
Die ursprüngliche Absicht der historisch-kritischen Methode war es, der Glaubensverkündigung einen soliden historischen Rahmen zu geben. Es ist jedoch höchst fraglich, ob diese streng angewandte Methodik für die Behandlung religiöser Texte im Allgemeinen und des Neuen Testaments im Besonderen geeignet ist. Schließlich kann man Glaube und wahrhaftige Tradition nicht ohne weiteres ungestraft trennen. Der Zweck der Evangelisten bestand zweifellos darin, ihre Leser zum Glauben an den Herrn zu bringen. Aber eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang ist, ob sie es auch für notwendig hielten, sehr realistisch erzählte, aber tatsächlich rein symbolische oder allegorische Geschichten in ihren Bericht über das Leben Jesu zu integrieren… Wenn man bejaht, wie es unter Bultmans Anhängern üblich ist, dann ist die Schlussfolgerung, dass das Leben Jesu an sich nicht überzeugend genug war. Ihr Bericht musste daher künstlich auf eine höhere (übernatürliche) Ebene gehoben werden, um für die Verkündigung einer neuen Theologie nützlich zu sein, die sich allmählich zwischen den ersten Christen entwickelte. So meinen die Befürworter dieser “wissenschaftlichen” exegetischen Methode.
Die Anfangsgeschichte des Lukasevangeliums über die ersten Lebensjahre Jesu ist für sie ein gutes Beispiel dafür und wird als “unwahrscheinlich” (oder manchmal bequem als “später hinzugefügt”) bezeichnet. In eklatantem Gegensatz dazu lesen wir, wie Lukas (Arzt und Gefährte des Paulus), noch bevor er seine Geschichte beginnt, seinen Korrespondenten Theophilus beruhigt: „Nun habe auch ich mich entschlossen, allem von Grund auf sorgfältig nachzugehen, um es für dich, hochverehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben…” (Lk 1,3). Solche Aussagen stellen die Glaubwürdigkeit der vier kanonisch akzeptierten Evangelien in Frage. Darüber hinaus schafft man in der Proklamation keine solide historisch fundierte Einheit, sondern eine fast unerschöpfliche Quelle kontraproduktiver Auseinandersetzungen zwischen exegetischen Schulen und Tendenzen. Die Schriften von Edward Schillebeeckx O.P. (1914 – 2009) illustrieren dies gut. Ihm zufolge wurden etliche Worte Jesu Ihm von den Evangelisten nachträglich zugeschrieben (sic). Seine theologischen Werke sind bekannt, aber vor allem Studienmaterial für die ausgebildeten Religionsgelehrten, denen es gelingt, in seiner komplizierten Argumentation die Schwänze von den Köpfen zu unterscheiden. Sie sind sehr progressiv, aber glaubensstärkend??
Die historisch-kritische Methode führte weitgehend zu einer unglücklichen Vernunftehe zwischen Glaube und Wissenschaft, in der Tat nicht wirklich wissenschaftlich und noch weniger religiös. Ein hervorragendes Beispiel für die modernistische “Glaubensaktualisierung”, zu der dies führen kann, finden sich in den Werken von Roger Lenaers S.J. (°1925) (1). Dieser viel übersetzte Autor werft so ziemlich den gesamten “depositum fidei” oder den Inhalt des römisch-katholischen Glaubens ohne Umwege in den Papierkorb… In seinen Briefen an Timotheus warnte uns Paulus: “Bewahre was dir anvertraut ist, und wendet euch ab von der profanen und leeren Vernunft und den Einwänden der sogenannten Gnosis” (1 Tim 6,20).
Der Geburtsort Christi
Bewerten wir nun konkret die Wissenschaftlichkeit einiger Ergebnisse der historisch-kritischen Erforschung der Geburts- und Kindheitsgeschichten von Matthäus bzw. Lukas. Sie haben wenig gemeinsam, außer unter anderem dass Jesus in Bethlehem geboren wurde. Auch die mündliche Überlieferung der Christenheit weist einstimmig in Richtung dieser Stadt südlich von Jerusalem. Man kann dort die Geburtskirche besuchen, die aus der Zeit von Kaiser Konstantinus (335 n. Chr.) stammt und an der Stelle errichtet wurde, an der Kaiser Hadrian 135 n. Chr. ein Heiligtum zu Ehren von Adonis errichten ließ, um dem Jesuskult entgegenzuwirken (2). In einem normalen Kontext wäre die offensichtliche Schlussfolgerung, dass es unter den ersten Christen eine große Übereinstimmung darüber gab, dass Jesus dort tatsächlich in die Welt kam. Auch in der Antike war der Geburtsort eines Menschen eine wichtige Identitätstatsache, die nicht einfach manipuliert werden konnte.
Aber Bethlehem anzunehmen würde bedeuten, dass die mehr als sieben Jahrhunderte alte Prophezeiung des Propheten Mikeas über die Geburt des Messias in Bethlehem buchstäblich erfüllt wurde (Mi 5,1-3). Eine solche Schlussfolgerung ist wissenschaftlich völlig inakzeptabel und Vorhersagen werden von historisch kritischen Forschern automatisch zu den “wundersamen” Erfindungen gezählt, die ausgeschlossen werden müssen. Folglich wurde nach 2.000 Jahren eine offensichtliche Wahrscheinlichkeit, nämlich dass Bethlehem der Geburtsort Jesu war, eingetauscht gegen eine spekulative Umkehrung der Tatsachen. Nach dieser neuen Interpretation behaupteten zwei Evangelisten, unabhängig voneinander, Jesus sei in Bethlehem geboren, so dass die Vorhersage perfekt in das gewünschte Bild von Jesus als dem lang erwarteten Messias passen würde. Wie bereits erwähnt, wirft diese sogenannte “realistische” exegetische Schlussfolgerung leider einen dunklen Schatten auf die Zuverlässigkeit der Evangelisten. Logischerweise müssen wir daraus auch schließen, dass Herodes’ Kindstötung eine sehr fragwürdige falsche Beschuldigung ist, die von Matthäus verbreitet wurde. In diesem Fall gab es immerhin nie einen neugeborenen potenziellen Kronprätendenten in Bethlehem. Eine sehr ernste Anschuldigung gegen den Evangelisten.
Unter der Annahme, dass die Geschichte von Herodes’ Kindstötung durch richtig ist, können wir mit Sicherheit davon ausgehen, dass die Eltern Jesu sicherlich nicht seine Geburt in Bethlehem an die große Glocke gehängt haben (und übrigens auch nicht seine jungfräuliche Empfängnis – dazu später mehr). Es war aber auch nicht beabsichtigt, dass sein Geburtsort “streng geheim” bleiben musste. Es ist wahrscheinlicher, dass es sich um eine familiäre Tatsache handelte, die lange Zeit diskret verschwiegen wurde. Ansonsten ist es schwer zu erklären, dass zwei Geschichten, die sich offenbar auf völlig unterschiedliche Quellen stützen, auf Bethlehem als Geburtsort Jesu hinweisen.
Ein weiteres Argument gegen Bethlehem als Geburtsort Jesu wird ebenfalls angeführt, nämlich dass er “der Nazarener” genannt wurde. Hier ist ein wenig historisches Einfühlungsvermögen angedeutet. Jesus wurde natürlich nur von den Leuten so genannt, die selbst nicht in Nazareth lebten. Es war ganz normal für sie anzunehmen, dass er “von dort” war, da er den größten Teil seines Lebens dort gelebt hatte, mit seinen Eltern und wahrscheinlich anderen Verwandten, und jeder kannte ihn dort. Dass er zufällig woanders in die Welt kam, konnten sie kaum wissen.
Darüber hinaus gab es eine endlose Debatte über den Namen Nazarener selbst. An einigen Stellen in den Evangelien heißt es auf Griechisch (der Schriftsprache davon) Nazoräer und in anderen Nazarener. Für den ersten gibt es keine schlüssige Erklärung. Unter anderem könnte es vom hebräischen Wort für Trieb oder Zweig abgeleitet werden. Die zweite bezieht sich auf einen Bewohner von Nazareth. Es scheint uns, dass dies ein künstlich angeheiztes sprachliches Problem ist. Am Kreuz, über dem Haupt Jesu, war sein offiziell angenommener (oder allgemein verwendeter) Name in drei Sprachen eingeschrieben (Joh 19,19). Auf Griechisch hieß es “ho Nazoraios” (3). Es ist sehr unwahrscheinlich, dass dies z.B. “das Zweig” bedeutet. Es ist auch unwahrscheinlich, dass dies „der Nasiräer“ bedeutete, eine Gott geweihte Person, die bestimmte Versprechen machte, einschließlich des Nichttrinkens von Wein. Die Herkunftsstadt als Teil des eigenen Namens war dagegen sehr verbreitet und ist daher bei weitem die Offensichtlichste. Das bedeutet, dass dies nichts anderes als eine übliche Wortänderung ist (wie es zum Beispiel in regionalen Dialekten der Fall ist), akzentuiert in der Umstellung auf Griechisch. Eine Bedeutungsverschiebung ist ebenfalls möglich, aber der ursprüngliche Name bezog sich höchstwahrscheinlich auf den Ort, an dem Jesus vor Beginn seines Predigtlebens lebte.
Eine normale und neutrale historische Analyse dürfte daher wenig oder gar keine Schwierigkeiten mit der Nennung von Bethlehem als Geburtsort haben, wären da nicht auch Zweifel, ob die von Lukas zitierte Volkszählung (die Josef zwang, nach Bethlehem zu gehen) tatsächlich stattgefunden hat. Außerdem lebte Josef offenbar in Nazareth, bevor er mit der schwangeren Maria nach Bethlehem ging. Nach Ansicht von Experten war diese Reise daher nicht erforderlich, da die Volkszählung normalerweise am Wohnort und nicht in der Stadt eines entfernten Vorfahren stattfand (was sehr plausibel erscheint). Es ist schwer vorstellbar, dass Lukas, ein gebildeter Grieche, das nicht gewusst hätte. Übrigens schreibt er selbst: “Und es zogen alle aus, um sich erfassen zu lassen, jeder in seine eigene Stadt” (Lk 2,3). Erst dann folgt der Satz, in dem die “Stadt Davids” erwähnt wird. Eine sehr akzeptable Erklärung könnte daher sein, dass Josef vor nicht allzu langer Zeit mit seiner Familie in Bethlehem lebte und offiziell noch als Bewohner dieses Ortes oder dieser “Stadt” angesehen wurde. Es ist sogar gut möglich, dass er beabsichtigte, dorthin umzusiedeln, da er das Risiko einging, seine hochschwangere Frau mitzunehmen, die sicherlich Nazareth als Heimat hatte.
Lassen wir die Experten in aller Stille weiter darüber diskutieren. Aber erscheint es nicht bizarr, dass ein ordentlicher und intellektuell begabter Gläubiger wie Lukas das unnötige Risiko eingehen wollte, von seinen Zeitgenossen bei einem groben historischen Fehler erwischt zu werden? (eine imaginäre römische Volkszählung sogar!) Mit der Erklärung für diesen bedenkliche Vorgehensweise, dass er dies tat, um den messianischen Aureole Jesu mit dem Anspruch auf Bethlehem als seinen Geburtsort künstlich zu verstärken? Ist eine solche “historisch-kritische” Position überzeugend? Oder ist das eher als stark unglaubwürdig zu sehen? (4)
(1) Dieser Autor wird in der Artikelserie “Das modernistische Evangelium nach Roger Lenaers” diskutiert.
(2) Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Geburtskirche
(3) Siehe: Jesus von Nazareth: Prolog – Die Kindheitsgeschichten, vonJoseph Ratzinger (Benedikt XVI.), ca. S. 110-113?
(4) Wenn Sie mehr darüber erfahren möchten, empfehlen wir Ihnen, William A. Ramseys immer noch viel beachtetes Werk Was Christ Born at Bethlehem? A Study on the Credibility of St. Luke.